23.03.1977
Die weiße Feder
Frühlingsmaskenball der Declerques







Mit was für einem gelungenen und bezaubernden Maskenball wurde da jüngst in London der Frühling einbestellt? Chapeau, Chapeau! Sich den dunklen Ereignissen dieser Tage entziehend, konnten einige Bürgerinnen und Bürger unter uns einen Blick in das Herrenhaus der Declerques werfen, das in den letzten Jahrzehnten beinahe nur leer stand und von den entsprechenden Hauselfen in Schuss gehalten wurde; und natürlich auch auf seine geheimnisvollen Bewohner, die seit einigen Wochen Paris hinter sich gelassen haben, um die Vorzüge unserer wunderbaren Weltstadt kennenzulernen.

In opulenten Ballkleidern, eleganten Fracks oder zeitgemäßen Anzügen versammelten sich die Gäste und sobald sie durch das dunkelholzige Portal mit Schwingtüren eintraten, war es, als würde man in eine andere Zeit eintauchen. Eine Zeit, die uns aus den Geschichtsbüchern noch wohl bekannt ist. Verehrte Leserschaft – herzlich willkommen zurück im Zeitalter des Absolutismus! Den Charme des französischen Versailles spürt man an diesem Abend gewiss.

In den Ballsaal dringt am Abend selbstverständlich kein Sonnenlicht mehr durch die hohen, mit rot-seidenen Vorhängen geschmückten, Rundbogenfenster. Dafür spiegelt sich in ihren Gläsern jedoch der Schein der fünf kristallbesetzten Kronleuchter von der Decke, die den Raum in ein angenehmes Licht hüllen. Die Galoschen an den eigenen Füßen bewegen sich ganz von selbst, so einnehmend und führend ist der rote Laufteppich mit güldenem, floral besticktem Muster, das jeden Gast direkt ans Buffet führt und sich auch sonst in dem stofflichen Dekor der Vorhänge hervorragend widerspiegelt. Wundervolle Blumenarrangements verführen nicht nur das Auge, sondern vor allem auch die Nase. Weiße, gelbe, orangene Gerbera. Feinblättrige Ranunkel, die wohlmöglich noch edler als Rosen wirken. Beeindruckende, wunderschöne, bunte Hortensien. In das Blumenmeer möchten Sie sich am liebsten hineinlegen, weil es so wohlduftend ist. Doch auch der Genuss für den Gaumen kommt an solchen Festen gewiss nicht zu kurz. Ein Vorspeisenbuffet mit frischen Meeresfrüchten. Dann viele, kleine Häppchen als Hauptgang. Mit allen möglichen Käsesorte, die Frankreich wohl aufbieten kann und hach… sooo saftigen Schinken. Wenn Sie in diese Brotkunstwerke hineinbeißen, verehrte Leserschaft, werden Sie ein zartes Knacken vernehmen, während der süße Saft von Weintrauben in Ihrem Mund zergeht und ungeahnte Geschmäcker bei Käse und Schinken freisetzt.

Werfen Sie übrigens auch einmal einen Blick auf den Hausherren, während ein Glas Champagner von der Champagnerglas-Pyramide wie von Zauberhand zu Ihnen heranschwebt und ein lustvolles Prickeln in Ihrem Gaumen entfachen wird. Monsieur Valentin Declerque (29) trägt einen marineblauen Frack und ist ansonsten in Blütenweißes gehüllt, und seine schwarzen Galoschen! Wieder einmal Chapeau! Gelangweilte Hauselfen haben wohl so lange geputzt, bis sie ihr eigenes Spiegelbild darin wiedererkennen konnten. Der elegante und freundliche Zauberer begrüßt beinahe jeden Gast persönlich. Nur mit Absicht kann man ihm durch die Finger rutschen. Edle Damen werden stets mit einem Handkuss begrüßt. Ansonsten zeigt er uns, dass er sich anständig und der Etikette entsprechend verbeugen kann. Monsieur Valentin Declerque trinkt allerdings keinen Champagner! Nicht ein einziges Glas am ganzen Abend. Er scheint wohl eher ein Rotweinliebhaber zu sein. Er schwärmt vom feinherben Wein, aus der westfranzösischen Bretagne stammend. Hoffentlich rächt sich das an diesem Abend nicht noch auf seinem blütenweißen Hemd. Verehrte Damen: aus sicherer Quelle ist zudem bekannt, dass der Hausherr ungebunden ist. Er gehört zu den begehrtesten Junggesellen Frankreichs, aber bis jetzt konnte ihn noch keine bezaubern. Also ran an den Mann, der zurzeit als Jurist im britischen Zaubereiministerium seine Galleonen anhäuft, während das erfolgreiche Familiengeschäft – geführt durch den älteren Bruder (und leider nicht mehr Junggeselle, aber kinderlos!) in Paris Zauberstäbe anfertigt und diese selbstverständlich auch verkauft. Wussten Sie eigentlich, dass wir uns von den Franzosen doch deutlich unterscheiden, wenn es um die Wahl des richtigen Zauberstabs geht? (Blättern sie auf Seite 3!) Zurück nach Paris: Es handelt sich also auch um ein Geschäft mit Tradition, das dieser Familie vor einigen Generationen schon in die Pariser Oberschicht verholfen hat. Ach ja, und natürlich nur nebenbei erwähnt: die Declerques können sich selbstverständlich als Reinblüter ausweisen. Darüber spricht hier am Maskenball allerdings niemand. Denn von Reinblütern wimmelt es im Ballsaal in Hülle und Fülle. Man käme fast auf die Idee, sie wären doch nichts Besonderes mehr.

Wenn man über Mode im Absolutismus sinniert, kommt man an den bekannten Perücken mit Korkenzieherlocken nicht vorbei. Liebe Leserschaft, ich muss Sie hier enttäuschen. Der Hang zum altmodischen Prunk war in diesem Punkt wohl nicht stark genug. Sollte man Hexen oder Zauberern hier auf dem Maskenball begegnen, die eine Perücke tragen, dann bemerkt man es in der Regel nicht. Mein Auge ist jedoch geschärft! Zu schamlos wäre es wohl dennoch zu verraten, wer seine Glatze mit einem Toupet bedeckt hält. Darüber werde ich also tunlichst schweigen müssen.

Widmen wir uns lieber einem anderen Junggesellen. Wohlmöglich dem Junggesellen, den unser Großbritannien zu bieten hat: Mister Castor Selwyn (23). Er hat sich nach besten Gewissen in einen Anzug geworfen und sieht recht passabel aus. Ohnehin wäre seine Erscheinung aber wohl nur halb so beeindruckend, wenn er sein blitzendes Lächeln nicht aufsetzen würde. Mister Selwyn ist gewiss ein Freund der hohen Worte. Er weiß jede Hexe an diesem Abend stilvoll zu komplimentieren, aber auch zu kompromittieren – ah welch gelungener Wortwitz!? – und Hexen, die ihm kognitiv nicht folgen können oder folgen wollen, bemerken das nicht einmal. Ein besonderes Interesse hegt unser Mister Selwyn übrigens an den Grindelwalds. Wie eine lautlose Raubkatze schleicht er sich an sie heran, sodass die Konversationen so wirken, als seien sie zufällig zustande gekommen. Das sind sie aber nicht Mister Selwyn. Wir haben Sie durchschaut!

Zwar erwähnte man gerade die Grindelwalds, doch es huschen noch andere Persönlichkeiten ins Bild! Da wäre Miss Roxane Dubois (26) – was für eine Erscheinung diese Hexe ist, wenn das Auge sich Zeit für sie nimmt! Um zu erfahren, wer ihre Schneiderin ist, würde ich gewiss jemanden töten. Das Ballkleid glänzt im Licht der Lüster und Kerzen und es schwingt so herrlich bei jedem Schritt! Ihr unschuldiges Lächeln ist nicht nur aufgesetzt. Miss Dubois genießt tatsächlich sehr diesen Abend und vor allem ihren Tanz mit Mister Krafft. Da wären wir gleich beim nächsten Junggesellen und einer neuen Nationalität! Verehrte Damen, sind Sie interessiert daran neue Welten zu entdecken? An der Seite von Mister William Krafft (32) sollte das gelingen. Er ist nicht nur Amerikaner und somit vom anderen Ende der Welt, sondern auch noch Botschafter. Bisher war zu beobachten, dass er alle paar Jahre das Land wechselte, in dem er arbeitete. Mit ihm können Sie also gewiss die Welt bereisen. Er ist zwar ein exzellenter Tänzer (wahrlich der Beste an diesem Abend), doch Vorsicht ist dennoch geboten! Denn Mister Krafft scheint ein grimmiger Zeitgeselle zu sein. Nur wenige Male kann man ihn an diesem Abend lächeln sehen. Am meisten erfreut scheint er über das Essen zu sein. Ein Genießer ist er also. Ich hörte irgendwann auf zu zählen, an wie vielen Häppchen er sich bediente. Maßlos. Fettleibigkeit im Alter ist also befürchten, liebe Damen! Das Alter macht einen mit der Zeit hässlich und welk! Wie rein das Herz des Amerikaners ist, vermag ich noch nicht zu sagen. Auf jeden Fall erscheint er bisweilen rüpelhaft! Kennt er denn die Etikette nicht? Faszinierend ist dieser Mann mit seinen Gegensätzen ja schon, und es dürstet mich herauszufinden, ob Mister Krafft andere Leidenschaften versteckt oder ob man lieber keinen weiteren Blick hinter die Fassade werfen sollte. Gewiss wollen Sie noch wissen, wie Mister Krafft gekleidet war. Ich muss Sie enttäuschen: keine besonderen Farben, keine modernen Schnitte sind erwähnenswert. Im Gegensatz zu seinem Verhalten erschien seine Kleidung höchst konservativ und traditionell!

Eine weitere Dame hat unser Aufsehen erregt. Sie trägt nicht unbedingt ein Kleid der diesjährigen Saison, mit Sicherheit war es auch nicht so teuer wie andere Ballkleider, die uns an diesem Abend zum Staunen bringen und Neiderinnen wie mich hervorbringen. Doch Miss Jupiter Macmillan (32) wirkt so neugierig, gelassen und fröhlich zugleich. Sie frönt dem Essen (und kennt sich im Gegensatz zu Mister Krafft mit Zurückhaltung aus!), schwebt den ganzen Abend über das Tanzparkett und scheint die einzige Person zu sein, die hier tatsächlich den Frühling begrüßen möchte. Man sieht es einfach an ihrem Blick, den rosigen Wangen. Sie ist nicht auf der Suche nach einem Mann, sondern nach Lebensfreude und wir dürfen glauben, dass Miss Macmillan jene an diesem Abend finden wird. Tanzpaare zieren immer wieder das Parkett und wundervolle Gesellschaftstänze lassen uns die Sorgen des Alltags vergessen.

Die nicht betitelten Ehrengäste des Abends waren ohne Zweifel Mister Victorius Grindelwald (30) und seine jüngere Schwester Miss Aurelia Grindelwald (20), die in ihrer Erscheinung einem Engel gleicht (obwohl sie gewiss keiner ist, wie Quellen aus Durmstrang berichteten. Daher, wo Miss Grindelwald ihre Schullaufbahn beendete, bevor sie in das britische Ministerium einfiel) und ohne Zweifel die interessanteste Maske des Abends vorzuweisen hatte. Ein wunderschönes Lächeln, die elfenhafte Fortbewegung, ein verspieltes und zugleich stilsicheres Kleid. Keine Fehler im Bereich der Etikette. Miss Grindelwald ich suche gespannt weiter nach Ihren Ecken und Kanten! An diesem Abend waren Sie bezaubernd und bedauernswert gleichermaßen. Ich kam nicht mehr mit – wie viele langweilige Konversationen mussten Sie aushalten? Wie viele potenzielle Heiratskandidaten haben Sie dennoch an diesem Abend würdevoll und höflich verzaubert wie das Nordlicht im Nachthimmel? Ich wünsche Ihnen, dass Sie genau das für diese Männer bleiben: das weitentfernte, unerreichbare Nordlicht am Nachthimmel.

Wie der hellste Stern am Nachtgestirn wacht übrigens Mademoiselle Daphne Declerque (27) über den Maskenball. Die meiste Zeit verbringt sie an diesem Abend oben auf der Empore, die an ihre privaten Räume angrenzt. Vorausgesetzt, man darf den Hauselfen Glauben schenken. Nicht einem Mann gelingt es, die hübsche Französin und Junggesellin über das Tanzparkett zu führen. Nur wenige Gäste und noch weniger Männer dürfen einen Blick hinter ihre viktorianische Maske erhaschen. Mademoiselle Declerque – Sie wirken an diesem Abend gelangweilt, scheu oder gar depressiv! Zum Teil dürfen wir nur noch Zeuge ihres melodischen Klavierspiels werden. So kennen wir Sie doch gar nicht! Gewiss macht man sich Sorgen, dass das launenhafte Wetter in London der französischen Hexe auf das Gemüt schlagen könnte. Müssen wir unsere Sorge noch einmal verstärken und unsere wundervolle Hauptstadt noch mehr anpreisen? Dabei besuchen Sie doch nun einen Malkurs, der Ihnen sehr zusagt, nicht wahr? Oder liegt der Hase ganz woanders im Pfeffer bedeckt? Die Gerüchte, Mademoiselle Declerque wäre zum Zweck einer Eheschließung nach Großbritannien gekommen, sind noch nicht verraucht. Sie erhält auch noch zahlreiche Post aus Frankreich, von Verehrern, wie ich herausfand.

Wer wohl nicht zu den Favoriten gehört? Das dürfte Mister Victorius Grindelwald sein, der uns Damen an diesem Ballabend allesamt schwer enttäuscht. Zwar ist auch er eine Erscheinung an diesem Abend wie seine Schwester und mindestens genauso stilsicher wie Mister Declerque (zur Erinnerung: in dem Traum aus Blütenweiß und Marineblau), doch kein ehrliches Interesse getarnt in höflichem Geplänkel! Also Mister Grindelwald, da müssen Sie sich schon mehr anstrengen! Meinem geschulten Auge blieb jedenfalls nicht verborgen, dass Sie an diesem Abend etwas Anderes anstrebten, als eine Verlobte zu finden. Auch auf der Suche nach einem Bräutigam für ihre Schwester waren Sie wohl eher nicht. Liebe Leserinnen, lassen Sie sich nicht vom Familiennamen dieses Junggesellen täuschen! Stock und steif, gar lähmend war die Gesellschaft von Victorius, der sich sichtlich zu einem Lächeln quälen muss. Außerdem ist es doch eher fragwürdig, inwiefern es für uns Damen bittesehr erstrebenswert sein soll, eine Grindelwald zu werden. Mein Tipp: Halten Sie sich besser an Mister Declerque, wenn es Sie nach Frankreich zieht, oder umgarnen Sie Mister Selwyn (lassen Sie ihn dabei aber bloß nicht ihre wahren Absichten spüren!) und heiraten Sie ein in den königlich anmutenden Kreis der Unantastbaren 28, wo sich ihr Leben vom Grund auf verändern wird!

Wann Sie dazu die nächste Gelegenheit erhalten, liebe Leserschaft? Nun bestimmt geben unsere neu gewonnenen Declerques bald wieder ein stattliches Fest. Am besten zur Walpurgisnacht! Sollte das nicht geschehen, werden wir alle recht enttäuscht sein.

Die weiße Feder


Gesellschaftskolumne